Wien Performance

WASTEland von Claudia Bosse

Nicht trotz, sondern mit dem Regen entfaltete sich WASTEland von Claudia Bosse von 24. bis 28. September 2025 auf einer verwilderten Brache hinter dem Wiener Hauptbahnhof. Gemeinsam mit den Performerinnen Su Huber, Lucia Mauri, Carla Rihl, Marcela San Pedro und Lena Schattenberg entwickelte Bosse eine multisensorische Begegnung mit dem Ort, seinen Geschichten und Bedingungen.
WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl
WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl

Schon am Weg zu der 2500 m2 großen Brache fällt die temporäre Tribüne ins Auge, auf der wir für den ersten Teil der Performance Platz nehmen werden: ein Gestell aus Eisen, verloren auf der Grasfläche, ungeschützt gegen Regen und Wind. Der anhaltende Nieselregen dieses Mittwochs benetzt schnell Kleidung, Haare und Gesicht. Und auch die Ankunft auf der Tribüne bedeutet keine Sicherheit. Nicht nur aufgrund der fehlenden Überdachung: Anders als im Theater- oder Kinosaal gibt es keine Dunkelheit, die uns unsichtbar macht; das unbeachtete Zuschauen fehlt. Eine der konstitutiven Bedingungen des Theaters ist so aufgehoben: die unsichtbare Position des Publikums, die sonst das Sehen asymmetrisch reguliert. 

WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl
WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl

Als die fünf Performerinnen in unser Sichtfeld treten, wird die Verschiebung spürbar: Frontal zur Tribüne stehend werfen sie unsere Blicke zurück auf uns. Ein Spiel von Sehen und Gegensehen entsteht, das die voyeuristische Logik konventionellen Zuschauens irritiert. Wir sind sichtbar, ebenso wie sie. Es gibt keine Hierarchie: Publikum, Performerinnen, Passant*innen – alle teilen Licht, Klang und Raum.

Verdecktes Beobachten verwandelt sich in gegenseitiges Wahrnehmen. 

Es ist fast, als würde die Intensität dieser ersten Momente der Performance den städtischen Alltag, der sich um uns weiter wie gewohnt abspielt, verschleiern. Wie in einem Vakuum befinden wir uns hier, werden gemustert, während die Hände der Performerinnen sich langsam zur Brust der jeweils neben ihnen stehenden Frauen tasten. Langsam schreiten sie nun nach hinten, hinein in die tiefe des Raumes, klammern dabei aneinander fest, gleich einem gewaltvoll verzweifelten Hoffen. Ein Hoffen, aus dem eigenen Körpern den Boden zu nähren? 

WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl

So springen die Frauen zu Boden oder lassen sich auf sie fallen, die verschiedenen Untergründe, die diese Fläche bietet: Gras, Schlamm, Schotter, Kies. Ich zucke zusammen; es hat etwas durchaus gewaltvolles und unheimliches an sich, wie sie sich hier bewegen, winden. Auch sind die Jeansoveralls der Performerinnen nun längst nicht mehr nur durchnässt, sondern gezeichnet von den Interaktionen mit den verschiedenen sie umgebenden und durchdringenden Materialien. Ihre Körper und Kleider werden zu Archiven des Ortes während sie die Bedeutungen des Ortes neu einschreiben.

Die Brache als vermeintlich vertraute Umgebung verwandelt sich mit ihnen; vertraute Konturen werden unheimlich, unkontrollierbar.

Die Porosität, die Bosse in ihrer Beschreibung des Stückes nennt, setzt erst ein, als die Frauen sich einige Meter von der Tribüne entfernt haben, das Vakuum der ersten Momente aufbricht, und die Geräusche der Stadt sich wieder ins Bewusstsein zu drängen schaffen. Die Staffelung ihrer Körper vermisst nun die tropfenförmige Brache, während das Licht weiter schwindet. Zyklizität und Transformation bestimmen die Bewegungsgrammatik: Stehen, Kriechen, Fallen, Wiederaufstehen. Es entsteht eine fragile, ökologische Relation, in der Grenzen zwischen Geben und Nehmen, Körper und Umgebung, Mensch und Gelände porös werden und ineinanderfließen.

Trancehaft und andersweltlich durchqueren sie den Raum, und obwohl sie ihr gemeinsames Handeln miteinander in Bezug setzt, bleiben ihre Bewegungen in gewisser Weise singulär. Sie alle nehmen eigene Positionen ein, eigene Rollen in ihrem Handeln, hier, in diesem Gefüge, in dem alle ihren Platz haben; alle allein bleiben und doch voneinander abhängig und miteinander verbunden.

An anderer Stelle verlassen die Performerinnen das Areal, überqueren die Straße und nähern sich den umliegenden Gebäuden. Es wird wieder deutlich: Dies ist kein isolierter Theatersaal, sondern ein offenes Gefüge ohne fixierte Grenzen, und vielleicht ist das hier auch keine Aufführung, sondern vielmehr ein ritualisiertes Denken, Aufspüren, Neu-verhandeln zu dem wir uns hier vorübergehend zusammengefunden haben. Gerade in dem Moment, in dem wir beginnen, uns auf der Tribüne der grünen Bühnenfläche gewordenen Landschaft einzurichten, wird diese Sicherheit wieder aufgebrochen, in Frage gestellt. Die selbstverständliche Übernahme von Raumbegrenzungen und Kategorisierungen wird unterlaufen – das Spielfeld öffnet sich in Richtung städtischer Struktur, dem was rundherum stattfindet.

Dieses Ausloten und Aufbrechen findet auch in Günther Auers Live-Kompositionen sein Echo. Seine Klänge ziehen nicht nur an uns vorbei wie die zahllosen Autos, Straßenbahnen oder Stimmen, sie messen den Raum ebenso wie die Körper der Performerinnen. Mal kaum hörbar, mal scharf hervortretend, lassen sie sich tragen von der unvorhersehbaren urbanen Geräuschkulisse, verschränken sich mit ihr oder überlagern sie. Eine akustische Topografie, die die Grenzen des Areals immer wieder neu verhandelt und den Raum und seine Grenzen schließlich als instabil ausweist – zitternd, atmend – in Resonanz mit den Körpern der Performerinnen, die ihn gleichzeitig befragen. 

WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl
WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl

Nach einer letzten Steigerung von Intensität – Zucken, Krümmen – steigen die Performerinnen schließlich die Tribüne empor, irritieren wieder (wir haben uns lange genug hier ausgeruht) die Zuschauer*innensituation, laden uns ein, zu ihnen zu kommen, hinunter zu Kies, Spuren ehemaliger industrieller Nutzung und Disteln. Eingeladen zum selbstständigen Erkunden der Landschaft verteilen wir uns über das Areal. Folgen mal der einen, mal der anderen Performerin, mal in der Gruppe, mal im Alleingang. 

Neben mir haben sich bereits Teile des Publikums selbst verwandelt. Eingehüllt in dicke graue Decken verteilt auf der grünen Insel inmitten der Stadt wirken sie selbst wie fremde Wesen, während die Performerinnen erzählen von den Orten, die dieser Ort einst war; von Flüssen und Industrien, den Sedimenten, die diese Geschichten hinterlassen haben. Dabei bleibt das Erzählen nicht lange narrativ, sondern verwandelt sich abermals in ein zyklisches performatives Durchlaufen dieser Veränderungen. Sanftes Sprechen weicht zackigen Bewegungen und Zischen, Fauchen, Schnauben.

Es wird klar: Geschichte selbst ist keine abgeschlossene Erzählung, es gibt keine lineare Chronologie.

Vergangenheiten lauern und überdauern (selbst wenn sie überwuchern) und Zukünfte kündigen sich an – ein Nachhall der Performance HAUNTED LANDSCAPE on an unseen wasteland, die die Arbeit des theatercombinats auf der Brache als urbanes Labor einleitete.  So verschränken sich Vergangenheit und Zukunft rauschhaft mit der Fragilität des Ortes und spiegeln zugleich unsere eigene Ausgesetztheit und Wandelbarkeit wider.

WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl

Als die Dunkelheit voll einsetzt, rüsten sich die Performerinnen mit Taschenlampen aus und füllen am Hydranten am Rand der Brache Wasser in Blechkübel. Im rhythmischen Sprechkanon schreiten sie voran, begießen den Boden. Eine Prozession von care, von der Sorge für eine fragile Landschaft, für Gräser inmitten einer unbeschatteten Insel inmitten von sie umringenden versiegelten Betonflächen. Sorge für Gräser die im Sommer verdürren, die sich erinnern an Kriege, Unrecht. Ein letztes Mal verteilen sie sich im Raum, um ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Pflanzen zu richten. Die fokussierten Lichtkegel schneiden durch die Dunkelheit, heben Gräser und Disteln scheinwerfergleich hervor und geben so ihnen wiederum eine Bühne. Jede Pflanze, jeder Laut, jede Geste wird isoliert und zugleich in ein größeres Gefüge eingebunden. Wieder wird der Raum auch akustisch vermessen – diesmal nicht nur durch Stadtgeräusche und elektronische Klänge, sondern durch den Stimm- und Sprachteppich der Performerinnen, der die vereinzelten Wesen in der Landschaft miteinander verbindet.

Wir verstehen ihre Sprache(n) nicht – und doch ist etwas erfahrbar.

Die Vielfalt der Laute, vom Zischen bis zum Gurgeln, vom Drängenden bis zum Sanften, eröffnet einen polyphonen Raum. Sprache erscheint hier nicht als Instrument rationaler Erkenntnis, sondern als Klang, als Beziehung, als Resonanz. Sie verweist auf eine andere Form von Kommunikation: nicht menschlich, aber dennoch bedeutsam – lesbar durch Stimmung, Rhythmus und Affekt, durch die Verflechtungen, die sich zwischen Körpern, Stimmen, Pflanzen und dem umgebenden Terrain entfalten.

WASTEland, 2025 © Claudia Bosse, Foto: Markus Gradwohl

So entsteht ein Ort (oder die spekulative Möglichkeitsform eines Ortes) der weder die Geschichten des Geländes wiederholt noch ein pathetisch-apokalyptisches Bild seiner Zukunft entwirft. Stattdessen öffnet er den Blick auf etwas radikal Anderes: archaisch, eigensinnig, gefährlich und zugleich verletzlich. In den 90 Minuten von WASTEland zeichnet sich die Belebtheit des und der Anderen ab – der Gräser, der Steine, der nicht- und mehr-als-menschlichen Kräfte. Körper, Landschaft, Materialität, Geschichten durchdringen uns, durchdringen einander. Gerade in dieser Durchlässigkeit entfaltet sich eine spekulative ökologische Realität, in der das Menschliche (wenn es das überhaupt noch gibt) nicht Zentrum, sondern Teil eines vielschichtigen, hybriden Gefüges ist.

WASTEland von Claudia Bosse
auf der Brachfläche hinter dem Hauptbahnhof Wien
zwischen Karl-Popper-Straße und Alfred-Adler-Straße, 1100 Wien

Premiere: 24. September 18:00
weitere Termine: 25., 26., 27. September 18:00
28. September 15:00 / durational version

Claudia Bosse / theatercombinat – www.theatercombinat.com


Claudia Bosse lebt in Wien, Berlin und Stockholm, ist Choreografin, Künstlerin und Regisseurin und leitet die transdisziplinäre Konstellation theatercombinat. Ihre Arbeiten verhandeln Formen von Gewalt, Geschichte und konkrete Utopien. Bosse versteht ihre raumgreifenden Choreografien, bei denen sie Mythen, Rituale und Texte mit Körpern, Objekten, Klängen und manchmal Chören verschränkt, als „Kunst einer temporären Gemeinschaft“ – auch mit nichtmenschlichen Wesen. Sie entwickelt ortsspezifische Performances, Installationen und Interventionen inner- und außerhalb Europas, in Museen, Architekturen, Theatern, Landschaften und Stadträumen. Ihre letzten Arbeiten waren die Serie HAUNTED LANDSCAPE/SWASTELAND dreams – a chronicle on choreographic groundcracks in landscape, BONES and STONES und entanglement with a haunted forest im Rahmen des Vierjahresprojekts ORGAN/ismus – poetik der relationen.

WASTEland ist Teil der Serie haunted landscape/s, die sich mit unseren Planeten beschäftigt und damit, wie wir ihn verstehen und als Teil davon leben. Sie behandelt die gewaltigen Transformationen von Umgebungen sowie deren globale Auswirkungen. Nach HAUNTED LANDSCAPE on an unseen wasteland im September 2024 und der Premiere von HAUNTED LANDSCAPES or the breathing out of earth im TQW finden seit März 2025 auf der brachliegenden Fläche im 10. Wiener Gemeindebezirk mit WASTELAND dream/s – a chronicle on choreographic ground monatlich wiederkehrende performative Rituale statt, die von WASTEland in eine raumgreifende Choreografie gefasst werden.

Konzept/Raum/Choreografie: Claudia Bosse
mit/von: Su Huber, Lucia Mauri, Carla Rihl, Marcela San Pedro, Lena Schattenberg
Sound: Günther Auer
Dramaturgie: Krassimira Kruschkova
Produktion/Assistenz: Juliana Furthner, Larry Mey

Eine Produktion von theatercombinat, in Kooperation mit Tanzquartier Wien. Gefördert
im Rahmen der Konzeptförderung von theatercombinat 2022-2025 von Stadt Wien Kultur
und vom Bundesministerium für Wohnen, Kunst, Kultur, Medien und Sport. Der Ort
wurde zur Verfügung gestellt von der ÖBB. In Zusammenarbeit mit dem Belvedere 21.