
Das Projekt existiert nicht nur als Bühnenproduktion, sondern auch in einem ortsspezifischen Format: „Erde & Plastik: Begegnungen“, das performative Erfahrung in direktem Bezug zu Raum und Publikum setzt.
Wie kam es dazu, dass du dich für das Studium „Zeitgenössischer Zirkus“ in Italien an der „FLIC – Scuola di Circo“ und in Frankreich an der ESAC Toulouse „Le Lido“ entschieden hast? Wie beeinflusst es deine Arbeit heute?
Das Ganze entstand durch eine große Reise und freiwillige Arbeit in einem „Wiederaufforstungsprojekt“ in Ecuador. Dort begegnete ich Straßenkünstler:innen – und verliebte mich in den Zirkus. Ich fand eine Praxis und Menschen, die mir Halt gaben. Zu dieser Zeit war ich auf der Suche nach einem „anderen“ Leben, nach Freiheit und Emanzipation von meiner Herkunft. So begann mein Weg in den zeitgenössischen Zirkus – zunächst in Italien an der FLIC, später in Frankreich am Le Lido (ESAC Toulouse). Ich habe viele Jahre in Frankreich gelebt, und ein Teil meiner Seele ist wohl immer noch dort und überlegt auch wieder zurückzukehren. Aber ja, derzeit bin ich hier in Österreich, denn in den letzten Jahren hat sich mein Fokus verschoben: Ich beschäftige mich intensiver mit meiner Familie, meiner Herkunft und meiner Muttersprache – eine Suche nach meiner eigenen „Erde“, nach einem Ort des Ankommens. Aber jetzt glaube ich, es geht dabei gar nicht um Ankommen. Diese Auseinandersetzung prägt meine heutige künstlerische Praxis stark. Sie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Selbstreflexion, Verletzlichkeit, und einer forschenden Körperpraxis, in der es darum geht die innere Landschaft war zu nehmen, , gegenseitige Abhängigkeiten wahr zu nehmen und so gut es geht meine Praxis aufrecht zu erhalten und weiter zu entwickeln. Im Vergleich zu Frankreich steckt der zeitgenössische Zirkus in Österreich noch in den Kinderschuhen – es gibt keine professionelle Ausbildung, nur wenige Spielstätten und wenig öffentliche Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren hat sich jedoch einiges verändert: Als ich 2017/18 zum ersten Mal wieder nach Österreich zurückkam, war die Szene noch eine ganz andere. Da gibt es ganz viele Menschen, die derzeit versuchen die Szene aufzubauen, und im November gab es sogar das erste Symposium für Zirkus beim On The Edge Festival in Wien. Zu Beginn habe ich vor allem gemeinsam mit dem Verein Freifall versucht, verschiedene Veranstaltungsformate und kollektive Zirkusprojekte zu initiieren – schließlich muss man sich oft selbst Räume schaffen. In den letzten Jahren hat sich mein Fokus allerdings etwas verschoben, insbesondere durch die intensive Zusammenarbeit mit Charlotte Le May (Cie Kumquat), einem Duo, dem ich lange Zeit große Aufmerksamkeit gewidmet habe. Derzeit liegt mein Schwerpunkt vor allem auf meiner eigenen künstlerischen Arbeit sowie auf Kooperationen, unter anderem mit dem On The Edge Festival – Festival für experimentellen Zirkus in Wien – und OFFTANZ Tirol in Innsbruck.

Welche Rolle spielt deine Herkunft in deinen Performances?
Ich denke, dass unsere Herkunft immer präsent ist – nicht nur geografisch, sondern auch in Bezug auf soziale, familiäre und politische Strukturen, die unsere Identitäten und Handlungen prägen. Herkunft kann man also sowohl als Ort verstehen – Kramsach, Tirol, Österreich, Europa – als auch als die Herkunft meiner Arbeit als Zirkuskünstlerin. Mein Alter, mein Geschlecht, meine Identität, mein sozial-politischer Kontext – all das ist Teil der sozialen Prägungen und Bedeutungsräume, die in meine Arbeit einfließen. Meine Vergangenheit, meine familiären und gesellschaftlichen Strukturen prägen mich, doch gleichzeitig spiegelt sich darin auch das Kollektive, die Gesellschaft, in der wir alle leben. Manche Erfahrungen oder Prägungen sind nicht bewusst integriert in das, was wir „Charakter“ nennen würden – sie sind in uns, manchmal unter der Oberfläche. Und genau das versuche ich auch reinzuschauen unter die Oberfläche. Wenn ich choreografiere, spüre ich immer die Beziehung zu mir selbst, zu dem, was war, was ist und was sein könnte. Die Arbeit ist ein vielschichtiger Prozess, bei dem Imagination, Gegenwart und Vergangenheit miteinander verhandeln. Mein Name ist Verena Schneider. Ich bin Akrobatin, Performerin, Zirkuskünstlerin und interdisziplinäre Künstlerin, die die Schnittstelle zwischen Tanz und Zirkus erforscht. Mein Körper ist durch das Training auf Virtuosität geprägt, durch das ständige Überschreiten von Grenzen. Ich spüre die Anforderungen der zeitgenössischen Welt intensiv in meinem Körper. Gleichzeitig sehe ich meine Praxis als Möglichkeit, Beziehung zu mir selbst, zu anderen und zu unserer Umwelt bewusst zu gestalten. Aber ja, ich darf mich wirklich glücklich schätzen, eine Familie zu haben, die mich unterstützt und mir Halt gibt. Besonders in den letzten Jahren habe ich die Verbindung zu meinen Eltern wieder intensiv gespürt. Ich bin ihnen sehr dankbar – für ihr Vertrauen in meine künstlerische Arbeit, für ihre Unterstützung und dafür, dass sie mir den Raum geben, meinen eigenen Weg zu gehen.

Wie erlebst du den Übergang zwischen Bühne, ortsspezifischen Installationen und Performances im öffentlichen Raum?
Ortspezifisches Arbeiten entsteht immer mehr in Beziehung zum Raum und lotet dessen Grenzen aus. Man versucht zu spüren, was die Landschaft zu erkennen, zu erspüren gibt, was es zu erkennen und bekennen gibt. Meistens sind diese performativen Auseinandersetzungen intuitiv und entwickeln sich direkt vor Ort, im Dialog mit dem Ort. Der Raum wird zum Körper. Es ist körperlich, es ist ein relationaler Körper.
In deiner Arbeit behandelst du Themen wie Artistic Labour und Autobiografie. Wie balancierst du persönliche Erfahrungen und Fiktion?
Für mich entwickelt sich das einerseits sehr intuitiv, andererseits durch Austausch mit Menschen, mit denen ich arbeite – vor allem jenen, die mich künstlerisch beraten oder dramaturgisch unterstützen. Persönlich ist für mich schon die Art, wie ich auf der Bühne bin, aber auch wie ich arbeite. Eine persönliche Erfahrung kann auch teils fiktional sein – sie ist subjektiv, intuitiv und immer ein Weg, zu kommunizieren, sich zu verbinden und Teil der künstlerischen Arbeit.
Artistic Labour beeinflusst – den Raum, in dem wir arbeiten und manchmal auch wie wir arbeit – was sichtbar wird, was nicht, wie es präsentiert wird und wie Form in Resonanz mit gesellschaftlichen Strukturen und finanziellen Strukturen tritt.
Im Tun geht es mir vor allem um Werte: wie man arbeitet, Grenzen setzt, Dinge bewusst stehen lässt und versteht, wie „In Form bringen“ die Arbeit und die Beziehungen zu anderen verändert – wie man auf die Menschen reagiert, denen man die Arbeit zeigt – was gerade in einem künstlerischen Feld so los ist auch was einen selbst gerade inspiriert, nicht loslässt oder man einfach weiter machen muss in eine Richtung – bis man eventuell umdreht. Ich versuche, Prozesse zu schaffen, die inspirierend sind, den Dingen Raum geben und den Prozess in den Vordergrund stellen, natürlich will ich auch eine gute Arbeit machen, aber ich vertraue dem Prozess. Meine Autobiografie und Perspektive fließen in meine Arbeit ein, sind aber nicht der alleinige Maßstab – ebenso prägen mich natürlich die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite theoretische Inhalte, sowie Arbeiten von anderen Künstler:innen, die mich inspirieren. Aber ja, ich arbeite eigentlich immer sehr persönlich und versuche, dieses Persönliche dann „universeller“ zu denken – denn ja, das Persönliche ist politisch. Auch wenn wir als Menschen unterschiedlich sind, glaube ich doch, dass bestimmte Prozesse in uns ähnlich ablaufen und wir uns oft im „Persönlichen“ des anderen spiegeln. Zirkus ist außerdem eine Kunstform, in der ich gelernt habe, persönlich zu arbeiten – ohne festes Repertoire – und in der oft sehr viel möglich ist. In diesem Lebensabschnitt ist es mir besonders wichtig, darauf zu achten, wie ich arbeite, und „care-ful“ zu agieren. Früher war ich sehr hart zu mir selbst, habe viel kontrolliert und versucht, alles „hart“ zu erarbeiten. Heute arbeite ich eher „soft“, achtsam mit meinem Körper und meiner Seele. Ich glaube, dass diese Aufmerksamkeit für unsere Körper uns auch hilft, besser mit unserer Umwelt und dem Boden unter uns umzugehen. Ich denke, eine Arbeit ist nicht „besser“, nur weil man viele Stunden geprobt hat oder weil man einem bestimmten Wert folgt. Natürlich passiert es noch, dass ich weitermachen will, obwohl mein Körper signalisiert, dass er nicht mehr kann – die Erde beginnt ja schon zu bröckeln. Ebenso bedeutsam ist für mich, die Dinge zu respektieren, über die ich nicht sprechen möchte. Oft ist das Schweigen genauso wichtig wie das, was ich thematisiere.

Welche Rolle spielt das Publikum für deine Arbeit?
Für mich entsteht die Arbeit vor allem dann, wenn sie mit Publikum geteilt wird. Die Proben sind dabei ein Versuch, eine Form zu entwickeln, in der ich mich dem Publikum hingeben und einen Dialog eingehen kann – einen Dialog, der nur in diesem Moment entsteht und durch die Form wieder performbar wird. Performance ist immer kurzlebig und ephemer, und genau das macht ihren Reiz aus: Sie entsteht an einem Ort, an dem Performende und Publikum aufeinandertreffen. In der Arbeit im Dezember wird das klar in einer frontal ausgerichteten Bühnenform sichtbar.
Am 12. Dezember 2025 um 19:00 Uhr zeigst du Erde & Plastik im BRUX / Freies Theater Innsbruck. Was war der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Erde & Plastik?
Das Projekt Erde & Plastik entwickle ich schon seit 2022, als ich es gemeinsam mit Jana Kilbertus in den SOHO STUDIOS zum ersten Mal in einer performativen Installation gezeigt habe – seitdem wollte ich ein Bühnenstück daraus machen. Ursprung der Research war eine persönliche Krise: Nach einer Reihe von Unfällen und wiederkehrenden Verletzungen war ich gezwungen, meine physische Zirkuspraxis zu dekonstruieren und neu zu denken. Es war auch ein Versuch meine mehr inhaltlich in diese Richtung zu arbeiten, also mein Interesse an Biologie, Psychologie und philosophischen Fragestellungen zu erarbeiten und eine Arbeitsweise zu entwickeln die Bewegungsqualitäten und eine bestimmte Haltung in den Vordergrund setzt.
Wie hast du die Performance im Laufe der Entwicklung weiterentwickelt?
„Erde & Plastik“ ist vor allem durch verschiedene ortsspezifische Versuche entstanden, die ich heute „Erde & Plastik: Begegnungen“ nenne. Ich wusste von Anfang an, dass sich die Arbeit zu einem Solo entwickeln sollte, doch immer wieder habe ich mit anderen Performenden zusammengearbeitet – zum Beispiel mit Iris Gravemaker bei den Premieretagen in Innsbruck 2023. Im gleichen Jahr lernte ich den Musiker Lukas Bamesreiter kennen, dessen Mitarbeit die Arbeit stark bereichert hat. Derzeit begleitet er mich live auf der Bühne und verändert dadurch die Dynamik der Performance. Das Ganze spiegelt aber auch sehr meine Arbeitsweise wieder – eine sehr prozessorientierte und manchmal auch etwas sich verlierende. Ein zentrales Element sind die Plastiktöpfe, die normalerweise Jungpflanzen enthalten. In der Performance bleiben sie leer und werden zweckentfremdet – das Versprechen des Pflanzens wird ausgesetzt. Stattdessen entstehen durch Stapeln, Ordnen und Bewegen der Töpfe neue Aktionen in unterschiedlichen Rhythmen und Intensitäten. Die Kombination aus runden und geraden Formen erzeugt einen Zyklus von Aufbau und Zerfall. Mich interessiert besonders die Formbarkeit dieser Materialien – wie durch subtile Interaktionen zwischen Objekt und Körper eine Beziehung entsteht, die zwischen Aktivität und Passivität oszilliert. Zunächst bildet sich eine Assemblage, die eine dynamische Wechselwirkung zwischen Performerin und Objekten schafft und sowohl die Szenerie als auch eine offene Narration beeinflusst.

Kannst du uns schon vorab etwas über das Stück erzählen – worauf dürfen sich die Besucher:innen besonders freuen?
Die Performance entsteht aus der physischen und symbolischen Interaktion zwischen Materialien, Körper und Musik. Die Besucher:innen dürfen sich auf wechselnde Handlungen freuen, die Instabilität, Bindung, Chaos, Abwesenheit und auch Gewalt sichtbar machen. Durch Wiederholung und absurde Konstellationen entstehen Bilder von Türmen, Ruinen, Gräbern, Geistern – aber auch von gezähmten Feldern oder absurden Alltagskonstellationen. Ausgehend von meiner Handstandspraxis erforsche ich drei zentrale Prinzipien: Ausdauer, Grenzen und Scheitern – immer im Dialog zwischen meinem Körper und den Plastiktöpfen. Wie viele kann ich stapeln, drehen, balancieren? Und: Wann kippt das System? Die Dramaturgie folgt einer performativen Logik von Präsenz, Beziehung und Transformation. Es geht darum, der Handlung zu vertrauen, die Objekte für sich sprechen zu lassen und die Spannung zwischen Darstellung und Ausführung auszuspielen. Berührt zu werden – oder selbst zu berühren, zu greifen, zu manipulieren – wird so Teil der Erfahrung. Als Reaktion auf die ökologische Krise entwickelt sich die Arbeit zu einem Zirkus, der sich von anthropozentrischen Kontrollfantasien löst und stattdessen Beziehungen, gegenseitige Abhängigkeit und Handlungsmacht (Agency) in den Fokus stellt. Die Performance definiert sich nicht über Tricks oder Spektakel, sondern über Bewegungsqualität, Verletzlichkeit, Scheitern, Balance und das Ausloten von Grenzen – für mich und für das Publikum.
Weitere Informationen und Tickets: www.brux.at/spielplan/erde-plastik
Verena Schneider – www.verenaschneider.org
Verena Schneider ist eine interdisziplinäre Künstlerin, deren Arbeit an der Schnittstelle von zeitgenössischem Zirkus, Tanz, Performance und Installation entsteht. Ihr aktuelles Projekt „Erde & Plastik“ setzt sich choreografisch mit dem Boden auseinander, auf dem wir leben, sowie mit unserem Verhältnis zum eigenen Körper und seinen Verletzungen. Im Zentrum steht die Frage nach den Ökologien des Körpers – wie Körper und Erde miteinander verbunden sind.
Ihre Forschung konzentriert sich auf eine nachhaltige Zirkuspraxis, die Bewegungsästhetik und traditionelle Tricks dezentralisiert und stattdessen Pflege, Kommunikation und die Ökologie des Körpers in den Vordergrund stellt. Im Umgang mit Verletzungen und künstlerischen Anforderungen versucht sie, die Ökologie des Körpers in den Mittelpunkt ihrer Praxis zu stellen, was ihr hilft, sich zurechtzufinden, weiterzumachen und über einen bestimmten Zeitraum hinweg weiter zu suchen, in dem sich der Zirkus weiterentwickelt, anpasst und auf die Landschaften bezieht, in denen sie sich befindet.
„Erde & Plastik“ entwickelt sich aus Schneiders Masterarbeit MA Choreography „CIRCUS AS ECOLOGY & BODIES AS SOIL PROCESSES“ und ist Teil eines zweiteiligen Projekts, das 2025 mit „Erde & Plastik“ beginnt und 2026/27 mit „Holding on to everything I’ve got“ fortgeführt wird.