
In ihrer künstlerischen Praxis setzt Senfter die Vergangenheit behutsam in einen neuen Kontext, um ein respektvolles Miteinander in der Gegenwart zu fördern und die Basis für zukünftiges Erinnern zu schaffen.
Nach dem Anschluss Österreichs 1938 wurde auch Osttirol Teil des nationalsozialistischen Reichs. Die Grenzlandschaft wurde zu einer stillen Passage für die im Nationalsozialismus verfolgten Personen. Viele Flüchtende erreichten mit dem Zug von Wien den Bahnhof von Sillian, wo ein lokaler Taxifahrer ihnen weiterhalf an die Grenze zu kommen, um von dort aus schließlich zu Fuß nach Italien zu gelangen. Neben dem Taxiunternehmen Stallbaumer engagierten sich auch zahlreiche weitere Personen im Ort als Fluchthelfer:innen, indem sie Menschen für kurze Zeit beherbergten oder für Wegweiser über das Gebirge sorgten.

Heute herrscht in der Gemeinde vorwiegend Verschwiegenheit über diesen Teil der Geschichte. Als die Künstlerin Annelies Senfter 2018 auf Anfrage einer Bürgerin mit ihrer Recherche begann, stieß sie auf eine Mauer des Schweigens. Vieles sollte auch im Zuge ihrer Forschung im Ungewissen bleiben. Ein Umstand, auf den die Künstlerin mit ihrer Arbeit auf poetische Art letztendlich auch reagiert.
Anlass für die Einladung zur Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte des Ortes war der bevorstehende 80. Todestag der Sillianerin Rosa Stallbaumer, die in Auschwitz ermordet wurde, weil sie zwei jüdischen Schwestern aus Wien bei der Flucht nach Italien geholfen hatte. Ausgehend von ihrer umfangreichen Forschung zum Widerstand und Beihilfe zur Flucht, ihren Besuchen der an der Grenze gelegenen Höfe sowie den Ergebnissen des Zeithistorikers Martin Kofler bezieht sich Annelies Senfter zusätzlich auf die Abschriften von Zeitzeug:innenberichten des Journalisten Michael Mayr aus den 1980er Jahren, die auch Verhörmethoden und Misshandlungen der Gestapo sowie Denunziationen und falsche Protokolle zur Sprache bringen. Am meisten interessiert sich die Künstlerin allerdings dafür, was in den Berichten nicht ausgesprochen wurde, die Lücken zwischen den Zeilen, das Ungesagte, das leise, aber spürbar mitschwingt, und damit die Frage wie kollektive und individuelle Erinnerung funktioniert.

Es entstanden insgesamt zehn Akten unterschiedlichen Umfangs, die nun in der Neuen Galerie der Künstler:innen Vereinigung Tirol auf insgesamt 29 Laufmetern ausgebreitet worden sind. Jede dieser Akten beginnt mit einem Zitat aus den Zeitzeug:innenberichten, welches auf das Ungesagte hindeutet, und ist zugleich einer bestimmten Person gewidmet. Diese zehn Personen, von denen zwei Opfer und acht Fluchthelfer:innen (u.a. auch der Taxiunternehmer Stallbaumer) sind, werden namentlich am Beginn der Arbeit auf einem separaten Schreibmaschinenprotokoll genannt. Welche Akte sich jedoch auf welche Person bezieht, bleibt bewusst offen und lässt den Betrachtenden eigene Schlüsse ziehen.
Getippt wurden die Zitate von der Künstlerin mit einer historischen Schreibmaschine. Eine Anspielung auf die in den Berichten oft erwähnten Verhöre der Gestapo.
„Acta“ – lat. „Handlungen“ – prägt nicht nur die Aktendeckel, auch die Recherche und die damit verbundenen Dokumente kreisen um Handlungen, Nicht-Handlungen, Misshandlungen und deren Konsequenzen. Und auch die hervorgegangene künstlerische Arbeit stellt das Handeln in den Mittelpunkt. In einem performativen Akt hat Senfter eine bestimmte Papiersorte gemeinsam mit einem blauen Durchschreibpapier solange in ihren Händen zerknüllt, bis dieses eine ledrige Struktur annahm und Risse erhielt. Erst dann war die Handlung und damit auch eine Akte abgeschlossen. Diesen Vorgang wiederholte die Künstlerin insgesamt zehnmal mit jeweils einer anderen Papiersorte, was jede Akte zu einem einzigartigen Zeugnis von Materialität, Geduld und Intensität macht und dabei sowohl emotionale als auch physische Stärke forderte. Trotz des Aktes der Wiederholung bleiben Unterschiede spür- und sichtbar – jede Handlung hinterlässt auf ihre eigene Art und Weise ihre Spuren. Vermeintlich kleine Unterschiede, wie die Sorte des Papiers, bestimmen das Ergebnis. Komplementiert werden die Akten von der ortsbezogenen Arbeit Ein Garten im Wald am Perlunger Hof1 in Sillian im Osttirol. Seit der ersten Präsentation der Werkserie im November 2022 pflanzt Annelies Senfter jedes Jahr Pflanzenknollen des Dolden-Milchsterns auf dem Feld hinter dem Hof an der Grenze zu Italien.

Für den Dolden-Milchstern, auch Stern von Bethlehem genannt, hat sich Senfter aus verschiedenen Gründen entschieden: in Erinnerung an die Bäuerin, die einer Flüchtenden eine Schale Milch anbot; als Zeichen des Gedenkens an die jüdischen Opfer des Holocaust; und aufgrund der ihr zugeschriebenen Heilwirkung, die helfen soll, Schock, Trauma und seelisches Leid zu überwinden. Die Werkserie Protokoll des Schweigens ist das dritte Projekt zur Erinnerungskultur der Künstlerin Annelies Senfter und wie schon zuvor widmet sie sich auch hier dem Konzept und Potenzial der Verschiebung. Kleine Verschiebungen eines bestehenden Systems, die Verborgenes und Unausgesprochenes sichtbar machen und so wieder in unser kollektives Gedächtnis zurückführen.
Ausstellung: Annelies Senfter – ACTA
kuratorische Begleitung: Bettina Siegele
Dauer der Ausstellung: 21.11.2025–01.02.2026
Adresse und Kontakt:
Künstler:innen Vereinigung Tirol*
Neue Galerie
Rennweg 1, Großes Tor, Hofburg, 6020 Innsbruck
www.kuveti.at
Annelies Senfter – www.anneliessenfter.at
In Annelies Senfters Arbeiten verbinden sich verschiedene Bewegungen des Suchens, des Erspürens und Verwebens zu einer lyrischen Einheit. Ihre visuelle Aufmerksamkeit für oft zunächst unscheinbare Zeichen und Spuren im Alltag, für die Zeitlichkeit hinter der Gegenwart, für Geschichte und Erinnerung leitet sich von einem spezifischen fotografischen Denken ab, das grundlegend für viele ihrer Arbeiten ist – auch wenn es sich nicht immer um Fotografie, sondern um Erweiterungen und Ableitungen des Mediums handelt. Sie schloss 2017 ihre Studien an der Universität Mozarteum Salzburg ab. Die künstlerische Praxis von Annelies Senfter umfasst Fotografie, Text, Rauminstallationen sowie orts- und kontextbezogene Arbeiten. Behutsame Annäherungen an historische Themen und Personen, verbunden mit tiefgehenden Recherchen, sind dabei Teil ihres Schaffens. In den vergangenen Jahren realisierte sie eine Reihe ortsbezogener Arbeiten und stellte ihre Werke in renommierten Institutionen aus u.a. im Museum der Moderne Salzburg Mönchsberg, in der Galerie Sophia Vonier Salzburg, der Künstler*innen Vereinigung Tirol, dem RLB- Atelier Lienz, dem kunstraum pro Arte Hallein und dem Raum der Stille Linz. Für ihre Beiträge zur zeitgenössischen Kunst erhielt sie zahlreiche Stipendien, Nominierungen und Auszeichnungen, darunter das Österreichische Staatsstipendium für künstlerische Fotografie, das Jahresstipendium für Fotografie, Land Salzburg, den Preis für zeitgenössische Kunst des Landes Tirol (Förderpreis) und den RLB Kunstpreis (Förderpreis).
- Der Perlunger Hof in Sillian war Wohnort der Fluchthelferin Gertraud Schneider. ↩︎