
In Durals Narration vermischen sich die beiden Chronistiken der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, zwei Bereiche, die stark durch (Arbeits-)Migration geprägt wurden. Ausgangspunkt dieser Erzählung ist die Mutter der Künstlerin, Özler Dural, die in den 1970er Jahren zu ihrer Tante nach Berlin gezogen ist und ab 1980 im Alter von 17 Jahren bei den Siemens-Werken als Bestückerin für Leiterplatten im Akkord anfing zu arbeiten. Aufgewachsen ist Ahu Dural gemeinsam mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in der eigens für die Arbeitnehmer:innen der Werke erbauten Siedlung Siemensstadt, jenem Ort, an dem Wirtschafts-, Sozial- und Migrationsgeschichte verschmelzen.

Für ihre Arbeit schöpft Ahu Dural zum einen aus ihren kindlichen Erinnerungen und Bildern, die sich in ihr (ästhetisches) Gedächtnis eingebrannt haben, und zum anderen aus Fotografien, aus denen sie Details herausnimmt und in neue Zusammenhänge bringt. Diese Übertragung ermöglicht einen Perspektivenwechsel und einen umfassenderen Blick auf das semantische Feld, aus dem das betreffende Detail stammt. Die Fotos zeigen verschiedene Arbeitskontexte wie Firmenfeiern, Zusammenkünfte von Arbeitnehmer:innen und Ausflüge sowie Szenen aus dem Familienleben der Durals. Das Übertragen von Details wird besonders in der Werkserie Weibliche Sachlichkeit, Wernerwerk XV verdeutlicht. Die Entwurfsskizzen stammen noch aus der Zeit, als Dural viel mit Stahl gearbeitet hat und erinnern in ihren Formen an die Frisuren der Fabrikarbeiterinnen auf den ausgestellten Fotos, während die kleinen bunten Gemälde als Bild im Bild, Abstraktionen von Details von Kleidungsstücken und Möbelausschnitten aus den Fotografien darstellen.
Auf eine ähnliche Art und Weise eröffnen auch Ahu Durals skulpturale Arbeiten Assoziationen zu ihrer eigenen Biografie und der ihrer Familie, welche auch exemplarisch für unsere gesamte postmigrantische Gesellschaft verstanden werden kann. Ahu reflektiert in ihren Skulpturen über die Bedeutung von Formen, Farben und Materialität. Die Aluobjekte Neue Sachlichkeit (Sonnenliege, Kittel, rot-weißer Kragen), Saatwinkler 129 (Tisch, Var. 04) und Neue Sachlichkeit (Sonnenliege, Kittel, großer lachsfarbiger Kragen) im hinteren Bereich der Ausstellung erinnern lose an die Fenster der Fabrikgebäude in der Siemensstadt aus den 1930er Jahre, die vorwiegend aus Stahl und Backstein im Stil der Neuen Sachlichkeit gebaut wurden. Für die Formgestaltung dieser Aluminiumobjekte hat Dural die Fenster der Gebäude abstrahiert und sich vorgestellt, durch sie und den dahinterliegenden Raum durchzublicken, sie zu überlagern und zu verschieben. Das Skulpturenpaar Kaufmitte (Var. 3) ist in seiner Formgebung an das Logo des Kaufhauses Kaufmitte Siemensstadt angelehnt, das ein Ergebnis des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit und der aufkommenden Kultur des Konsums darstellt. Die aus den Wolken hervorkommenden Beine mit Absätzen sind eine Anspielung auf einen Nachrichtenbeitrag zu Kaufmitte Siemensstadt, der den ebenen Boden als Errungenschaft für Frauen mit hohen Absätzen lobend erwähnte. An die Farbe des Logos von Siemens erinnert der türkise Raumteiler, dessen Form an die Aluobjekte angelehnt ist. Er teilt die Ausstellung in zwei Bereiche – in den hinteren, wo sich Arbeiten der Künstlerin aus den letzten Jahren und Fotografien aus ihrem persönlichen Familienalbum und dem DAM-Dokumentationsarchiv Migration Tirol befinden, und den vorderen Bereich, mit einer Reihe für die Ausstellung im Kunstpavillon neu entstandener Arbeiten. Die Farbe dieser neu entstandenen monochrom rostroten Skulpturengruppe ist inspiriert von den Backsteinwänden des Wernerwerks, jenes Fabriksgebäudes in der Siemensstadt, in dem Ahu Durals Mutter beschäftigt war. Die Skulpturen selbst greifen verschiedene Aspekte des Alltags – Lohnarbeit, Freizeit, Hausarbeit – auf und lassen an Möbel denken, bewahren aber dennoch ihre Funktionslosigkeit, auch wenn die Form des Chaiselongues vielleicht zum Sitzen verleiten mag. Für die Bildhauerin Ahu Dural sind Möbel Raumobjekte mit einer ihnen zugeschriebenen Funktion, während Skulpturen mit dem Raum spielen – sie sind Grafiken im Raum.

Wichtige Bezugspunkte bei der Formfindung sind für die Künstlerin nicht nur Design und Architektur der Moderne, sondern vor allem auch modernistische Gestalterinnen und Architektinnen wie Eileen Gray oder Charlotte Perriand, deren Biografien selbst wieder den Genderaspekt von Arbeit, Industrie und Gestaltung widerspiegeln. Gleichzeitig interessiert sie sich auch für die räumliche Organisation von Geschlecht, die in den von Arbeiterinnen dominierten Räumen der Siemenswerke sich mit den Themen Migration und Klassengesellschaft vermischt. Neben den Fotos sind die Frauenfiguren Die Monteurinnen / Kadın Montajcılar (Figurenobjekt, Var. 02, 08 und 14) ein sehr direkter Verweis auf die Bedeutung von Frauen in der Wirtschaftsgeschichte des deutschsprachigen Raums1. Die übergroßen Pinzetten verleihen ihnen Standhaftigkeit und lassen sie ihren Platz in der Geschichte verankern. Die Pinzette als wiederkehrendes Element in Durals Arbeit ist aus dem Logo der Siemenswerke entnommen und kann auf der ein oder anderen weißen Arbeitsschürze auf den Fotos entdeckt werden. Weitere wiederkehrende Formen in der Ausstellung sind Wolken, als Verweis auf die wachsende Konsumgesellschaft, aber auch Kindheitserinnerungen; Stiefel, als Verweis auf die Frauenbelegschaften der Fabriken, die mit ihrem Einsatz maßgeblich zum Wirtschaftsaufschwung beigetragen haben und sich auch gegenseitig Halt gaben; und Hände, die auf die verrichtete Akkordarbeit verweisen.

Andere Formen in Durals Skulpturen sind weniger illustrativ und wurden inspiriert von ihrer gebauten Umwelt, wie beispielsweise die Sitzflächenform der bunten Hocker Hocker Siemensstadt (Var. Kirschrot Nr.2), Hocker Siemensstadt (Var. Pink) und Rosa (Einschulung), die den Sitzflächen von Federwippen von einem Spielplatz aus Ahu Durals Kindheit entnommen sind. Ergänzt wird die neue Werkgruppe von künstlerischen Beiträgen von Peggy Pehl und Irma Blumstock. Die Eisbecher, Zigarettenschachteln und Töpfe verweisen auf den Freizeit- und Alltagsaspekt der Arbeiterinnen. Der orchestrierte Blick und die choreografierten Bewegungen von Körpern im Raum werden durch die teils verschobenen Dimensionen der Objekte gebrochen. Die sehr hohen Objekte entziehen sich den üblichen Sehgewohnheiten. Ahu Dural spielt mit den Raumrelationen und einer zur Funktionslosigkeit führenden Proportion der Objekte und deren physische Auswirkung auf die Körper der Betrachtenden.

Der lokale Kontext
Ahu Dural setzt sich in ihrer künstlerischen Praxis mit den Verflechtungen von Architektur, Kunstgeschichte und Design auseinander und bezieht dabei geschlechtertheoretische wie identitätspolitische Perspektiven mit ein. Als Bildhauerin überführt sie Erinnerungen, Erzählungen, Archivmaterial und Skizzen in räumliche Konstellationen, die neue narrative Ebenen erschließen und eine erweiterte Erinnerungskultur erfahrbar machen. Durch das Miteinbeziehen von Geschichte und Fotografien aus dem DAM-Dokumentationsarchiv Migration Tirol des ZeMIT-Zentrum Migration Integration Teilhabe gelingt es Dural, ihre persönliche Biografie und jene ihrer Mutter, die stark an Berlin gebunden ist, exemplarisch für einen größeren Kontext sprechen zu lassen. Özler Durals Lebensgeschichte wird damit stellvertretend für zahlreiche Biografien sogenannter Gastarbeiter:innen in Deutschland und Österreich. Beim Durchstöbern des DAM hat sich die Künstlerin auf Parallelen und ästhetische Verbindungen konzentriert und diese vor allem in Aspekten der Kollektivität und Gemeinschaft gefunden. Die Bilder der Arbeiterinnen in Berlin vermischen sich mit den Arbeiterinnen in Tirol und transportieren ähnliche Inhalte: Die abgelichteten Szenen zeugen von Spaß, Kolleginnenschaft und Freundinnenschaft und verdeutlichen, dass Migration auch etwas Aufregendes, ein Abenteuer, sein kann. Özler Durals Akkordarbeit hat ihren Töchtern Bildung und sozialen Aufstieg ermöglicht. Ihre produktive Energie hat ihre älteste Tochter Ahu maßgeblich in ihrem eigenen künstlerischen Schaffen geprägt. Heute arbeitet Özler Dural nicht mehr im Siemenswerk, sondern genießt ihren verdienten Ruhestand auf einer sonnigen Liege – Manastır Beach.
Ausstellung: Ahu Dural. Frau Monteurin / Kadın Montajcı
kuratorische Begleitung: Bettina Siegele
Dauer der Ausstellung: 26.09.25–10.01.26
Adresse und Kontakt
Künstler:innen Vereinigung Tirol*
Kunstpavillon
Rennweg 8a, 6020 Innsbruck
www.kuveti.at
Ahu Dural – www.ahudural.com
Derzeit beschäftigt sich die in Berlin-Siemensstadt aufgewachsene Ahu Dural (*1984, Berlin) mit der Geschichte und Architektur der Orte ihrer Kindheit. Nach ihrem Studium des Illustrativen Zeichnens an der Universität der Künste in Berlin erweiterte sie ihre künstlerische Forschung in Wien, wo sie an der Akademie der bildenden Künste bei Monica Bonvicini Performative Kunst und Bildhauerei studierte. Dural erhielt wichtige Stipendien mit anschließenden Gruppenausstellungen, darunter 2021 das Stipendium des Goldrausch Künstlerinnenprojekts, wo sie ihre neuesten Arbeiten in der Ausstellung Mutual Matters in den Räumen der Fahrbereitschaft der Haubrok Foundation (Berlin) präsentierte. Des Weiteren erhielt sie die Förderung für zeitgeschichtliche und erinnerungskulturelle Projekte, Berlin (2023), das Berliner Arbeitsstipendium mit der Ausstellung Realities Left Vacant im n.b.k., Berlin (2022/2023), sowie 2024 das KUNSTFONDS_Stipendium der Stiftung Kunstfonds (Bonn, DE) mit einer Ausstellung in der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Halle, DE (2025). Im Juni 2025 werden Ihre Werke erstmals in der Museumsausstellung Family Matters im Museum der bildenden Künste Leipzig zu sehen sein. Zu ihren bisherigen Preisen zählen der Gustav-Peichl-Preis für Architekturzeichnung (2016) und der Preis des Best Austrian Animation Festivals (2014).
- Die in der Nachkriegszeit wichtige Textilindustrie (in Tirol zum Beispiel die Firma Herr- burger und Rhomberg) war eine stark weiblich geprägte Arbeit, genauso wie die Akkordarbeit von Özler Dural, deren präzise, feinmotorische Aufgabe meist ausschließlich von Frauen ausgeführt wurde. ↩︎