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Auf der anderen Seite

Wenn kleine Kinder sich verstecken wollen, halten sie sich die Augen zu. Sie denken, wenn sie nicht sehen können, was sie umgibt, wären sie selbst ebenfalls unsichtbar für ihre Umgebung.
Ferdinand Dölberg - Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann
Ferdinand Dölberg – Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann

Wenn kleine Kinder sich verstecken wollen, halten sie sich die Augen zu. Sie denken, wenn sie nicht sehen können, was sie umgibt, wären sie selbst ebenfalls unsichtbar für ihre Umgebung. Irgendwann kommt der Moment, in dem sie dann erkennen, dass sie sichtbar bleiben, auch wenn sie selbst nicht sehen können, wovon sie umgeben sind. Wenn sie sich verstecken wollen, suchen sie sich nun einen Ort, an dem sie tatsächlich nicht gesehen werden können – ihre Augen schließen sie dafür nicht mehr. Vielleicht passiert das ungefähr in demselben Zeitraum, in dem sie das Lacan’sche Spiegelstadium erreichen: Sie erkennen sich nun selbst im Spiegel und verkennen sich gleichzeitig, indem sie sich als Subjekt, als geschlossene Einheit wahrnehmen.

Wenn Menschen alt werden und sich, ganz langsam, darauf vorbereiten, sterben zu müssen, erfahren sie manchmal etwas ähnliches, wie Kinder, die sich die Augen zuhalten, um nicht gesehen zu werden. Ich erinnere mich daran, wie mein Großvater immer wieder wiederholte, dass er sich vor seinem Tod ängstige, weil wir, die Angehörigen, dann ja ebenfalls verschwinden würden. „Wenn ich nicht mehr da bin, dann seid ihr ja auch nicht mehr da“ wiederholte er immer und immer wieder. Der Tod war für ihn also auch ein Logikproblem – er stellte ihn sich als eine „andere Seite“ vor, von der aus wir Lebenden ebenso unsichtbar für ihn wären wie er für uns.

Ferdinand Dölberg - Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann
Ferdinand Dölberg – Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann

In Ferdinand Dölbergs Ausstellung „Am Ende die Leerstelle“ wird der Tod ganz buchstäblich als eine andere Seite verhandelt: Das Grundstück des verstorbenen Vaters des Künstlers grenzt an einen Friedhof, nur ein Zaun trennt den Bereich des blühenden Lebens, den Garten, von dem des Todes, der ebenso blühenden Grabstätten. An dem Zaun lehnt eine Leiter, man kann sie benutzen, um einen Blick auf die andere Seite zu wagen oder auch darüber zu klettern. Der Blick auf den Friedhof ist ebenfalls ein Blick in die (eigene) Zukunft. Erst seit er sozusagen die Seite gewechselt hat, benutzt der Künstler diese Leiter, um seinem Vater einen Besuch abzustatten.

In Ferdinand Dölbergs Portrait-Serie sehen wir diejenigen, die auf der anderen Seite hinterblieben sind – fast muten sie an wie Erscheinungen, als trügen sie einen Teil der Seele ihrer verstorbenen Angehörigen mit sich. Sie halten Objekte in den Händen, profane Artefakte, die die Verstorbenen zurückgelassen haben: Ein Kelch, ein Regenschirm, eine Wärmelampe, eine Sackkarre, ein Blumenstrauß. Manchmal sind es vergängliche Gegenstände – auch sie werden sakral ohne dabei spezifisch religiös anzumuten, man kann Rückschlüsse auf die Charakteristika der Verstorbenen ziehen. Die Trauernden haben alle ihre eigene Form der Spiritualität, man glaubt sie in ihrem durchdringenden, ernsten Blick zu erkennen. Man kann ihnen sowohl Melancholie und Leere als auch Heiterkeit unterstellen. Leicht überlebensgroß schauen sie auf uns, die Betrachter:innen hinab, beschwören die Präsenz der Verstorbenen mit ihrer Hingabe an sie herauf, sehen fast selbst aus, als wären sie im Himmel oder zumindest in einem Limbo zwischen Leben und Tod, eine Annäherung an jene, unerreichbare andere Seite. Sie sind die Leiter heraufgeklettert um, mit fast nüchternem Blick, über den Zaun zu schauen, wo (unsichtbar) die Toten liegen.

Ferdinand Dölberg - Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann
Ferdinand Dölberg – Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann

Die Figuren wirken tiefer, dreidimensionaler als ihr Hintergrund, als der (virtuelle) Raum, in dem sie sich befinden, sie bleiben schwarz-weiß, aus der Zeit gefallen, ihr Hintergrund ist einfarbig, wie bei einem Spielkartendeck. Fast hält man die Portraitierten für Spielfiguren oder Avatare – das Spiel, der Verlust, ist ernst. Als Trauernde befinden sie sich in einem Zwischenraum zwischen der einen und der anderen Welt, sie selbst stellen mit ihrer Erinnerung die Präsenz der Abwesenden her, die ebenfalls in den zurückgelassenen Gegenständen anwesend bleiben. Die Farbigkeit gibt den Malereien etwas leicht Nostalgisches – Nostalgie ist eine Sehnsucht nach einem Zustand, der nie da war, ebenso wie die Erinnerung an Verstorbene immer auch eine verschobene ist, geprägt durch jene, die sich erinnern. Die Gegenstände werden Schutzschilder gegen die Ohnmacht des Schmerzes – gleichzeitig zeigen sie auch die Last des Nachlasses an.

In der westlichen Welt fehlen Trauerrituale, die andere Seite bekommt im Alltag keinen Raum. Ferdinand Dölbergs „Am Ende die Leerstelle“ ist ein nicht-religiöses Ritual: Nicht nur für den Künstler selbst, auch für die Betrachter:innen. Die sonst so abgeschlossene Welt der Trauernden öffnet sich, der Schmerz hält Einzug in die Alltäglichkeit und wird dabei auch zu etwas Hoffnungsvollem: Das Erinnern bekommt, ganz buchstäblich, einen Raum, die Präsenz der Abwesenden in den Noch-Anwesenden wird konkret. Ein leerer Zettel ist den Portraits hinzugefügt: Vielleicht eine Abschiedsnotiz, die nie geschrieben wurde? Am Ende bleibt eben die Leerstelle, das Ungesagte, das Nicht-Erlebte, der innere Monolog, der gerichtet bleibt an die Personen, die nicht mehr da sind.

Ferdinand Dölberg - Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann
Ferdinand Dölberg – Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann

Für die Trauer gibt es keine Auflösung – ebenso wie das Leben der Verstorbenen unvollständig bleibt. Deutlich wird das auch in dem Schiebepuzzle, das der Portraitserie hinzugefügt ist: Es gibt elf variable Teile und zwölf Lücken – eine Lücke bleibt also immer frei. Das System erinnert an die Knobelspiele, die Kinder spielen, wenn sie noch in dem Alter sind, in dem sie sich die Augen zuhalten um sich zu verstecken. Wenn man genau hinschaut, kann man, eine liegende Person erkennen. Die Betrachterinnen fügen die Teile zusammen und erschaffen damit einen Menschen – einen verlorenen Menschen. Beim Puzzeln wie beim Trauern hilft es, die Kontrolle abzugeben und sich auf die Narrative zu besinnen, mit denen man weiterleben kann. Denn der Tod der anderen nimmt immer auch etwas von den Lebenden. Das Puzzle ist nie vollständig und dadurch immer in Bewegung.

Die Französische Wendung „Tu me manques“ bringt den Verlust auf den Punkt: Anders als das Deutsche „Du fehlst mir“ heißt es nämlich auch mit dem Fehlen von dir fehlt mir ein Teil von mir. So wie die Fehlenden nämlich in den Anwesenden weiterleben, so nehmen sie auch einen Teil der Lebenden mit auf die andere Seite.

Ferdinand Dölberg - Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann
Ferdinand Dölberg – Am Ende die Leerstelle. Ausstellungsansicht. Foto: Sascha Herrmann

Der Tod ist der ultimative Cliffhanger, das Ende der Autorschaft über das eigene Leben – die Geschichte wird nun von den anderen weitergeschrieben. Und darin gibt es auch etwas Tröstliches, zumindest sofern die Noch-Anwesenden die Geschichte so sanft und behutsam weitererzählen, wie sie das in Ferdinand Dölbergs Malerei tun.

Nicht umsonst sind Beerdigungen, ebenso wie Ausstellungseröffnungen, eben auch Feste – das Festessen und -trinken gehört obligatorisch dazu, das Lachen und das Weinen sind verwandte Emotionen. Am Ende bleibt der Glauben, welcher Natur er auch immer ist.

Ich erinnere mich, wie ich als Kind einmal ein Picknick auf dem Friedhof gemacht habe und von vorbeigehenden Friedhofsbesucherinnen heftig für die (Zitat) „Pietätlosigkeit“ kritisiert wurde – ein Wort, das ich in diesem Moment zum ersten Mal hörte. Ich habe mir das Picknicken auf dem Friedhof dann abgewöhnt – heute denke ich, dass es doch schön wäre, das Ritual wieder einzuführen und damit den Ort des Todes zum Leben zu erwecken. Ferdinand Dölberg hilft uns, den Blick auf die andere Seite (des Zaunes) zu lenken und das ist mindestens so hoffnungsvoll wie es traurig ist.

Ausstellung: Ferdinand Dölberg – Am Ende die Leerstelle
Dauer der Ausstellung: 03.06. – 08.07.23

Adresse und Kontakt:
Galerie Anton Janizewski
Goethestraße 69
10625 berlin
www.antonjanizewski.com