Linz Kunst
Darstellende Kunst

Hybrid Werden. Eine Reflexion

Unsere westliche Welt ist geprägt von Dualismen, Hierarchien und Trennungen. Wir unterscheiden zwischen Natur und Kultur, dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen, dem Normalen und dem Abnormalen. Diese Grenzziehungen präsentieren sich als objektiv gültig und rational, und verschleiern dabei ihre eigene historische Bedingtheit. So konstruieren und erneuern sie sich selbst und prägen Landschaften, Körper und Geschichte. Inmitten dieser rigiden Dualismen kann Performance ein subversives Potenzial entfalten, Grenzen hinterfragen und aufbrechen und neue Realitätsverhältnisse und Gemeinschaften erzeugen.
Hybrid Bodies Festival, OK Linz 2023. Performance: LABO TRACES von TANZ LINZ.
Hybrid Bodies Festival, OK Linz 2023. Performance: LABO TRACES von TANZ LINZ.

Ein Zeichen für Performance
Mit dem von Freda Fiala kuratierten Hybrid Bodies Festival entstand am 1. Juli 2023 ein dreiteiliger Performance-Abend, der ebensolche Verhältnisse auf vielschichtige Art und Weise performativ auslotet und aufbricht. Als Teil des Formates “perfoörm” der Oberösterreichischen Landes-Kultur GmbH (ÖOLKG) fand die Veranstaltung im OK Linz nun schon in zweiter Edition statt. Das Offene Kulturhaus (OK) Linz bietet hier einen institutionellen Rahmen – für die für Performance so bestimmende Dimension geteilter Präsenz, für den gegenseitigen Bezug von temporären Kunstausstellungen und performativen Formaten, sowie für eine  Positionierung von künstlerischen Körperpraktiken im breiteren Kontext künstlerischer Produktion und Dokumentation. Wie schon mit “The Non-Fungible Body?” im Vorjahr zelebrieren die Performances in „Hybrid Bodies“ die Buntheit performativer Zugänge.

So könnten die drei Performances kaum verschiedener sein: Von Claudia Bosses post-anthropozentrischem Beitrag flowers, bodies and STONES mit Studierenden des Institute of Dance Arts der Anton Bruckner Privatuniversität und der Kunstuniversität Linz; über die mit einer Sektdusche endende energische Performance Mermaid Escape Room der Taiwanesischen Künstlerin Betty Apple; bis hin zu der abschließenden, fein gewobenen Tanzperformance LABO TRACES von TANZ LINZ. Die Performances wirken wie ein Blick hinter einen Spiegel, wo sich immense Vielfalt erahnen lässt und verweisen auf Fluidität und verschwimmende Grenzen innerhalb der Kategorien von Kunst, Tanz, und Performance. Verbindend ist dabei die Tatsache, dass sie uns als Zuschauende immer wieder zu einem Positions-, Perspektiven- oder Rollenwechsel zwingen – sei es durch Bewegungen durch den gebauten Raum, das Aufgeben eines passiv-voyeuristischen Blickverhältnisses oder die Auflösung strikter binärer Verhältnisse zwischen Performenden und Publikum.

Verwesen und Versteinern
So auch in den ersten Momenten von flowers, bodies and STONES: langsam mischen sich Performer*innen unter das dicht im Museumseingang gedrängte Publikum. Weder ihre Anwesenheit noch der Beginn der Performance werden von einer Begrüßung angekündigt. Eine Weile dauert es, bis Stille den Raum erfüllt, die Präsenz der Performer*innen von allen wahrgenommen wird. Auch herrscht eine gewisse Unsicherheit, wie man sich inmitten dieser Situation positionieren soll. Aufgrund der Enge im Raum ist die Sicht auf das Geschehen für Viele eingeschränkt, vielleicht fehlt sogar die Konzentration, da wir so stark die Körper links und rechts, vor und hinter uns wahrnehmen. Auch die Performer*innen selbst – ihre Köpfe verdeckt von vertrocknenden und verwesenden Blumen – scheinen in diesem Moment nicht “für” das Publikum zu agieren. Was wir erleben ist vielmehr eine gemeinsame Teilhabe an ihren Handlungen, während sich ihre Körper im Hauch einer stillen Briese wiegen, oder auf die stetigen Luftströme der Anwesenden, den Sog des Ein- und Ausatmens, reagieren. Bald löst sich die Versammlung auf, und eine Menschenmenge strömt zähflüssig die Treppen des Gebäudes hinauf zur nächsten Etappe.

Die Blumen ausgetauscht durch Steine, beginnen die Performer*innen einen Prozess der Transformation und Begegnung. Sie treten in einen intimen Kontakt mit den Steinen, erkunden mit ihren Zungen die rauen Oberflächen, oder lassen die Steine zu symbolischen Verlängerungen ihrer Körper werden. Es sind “die letzten Schnaufer einer sterbenden Menschheit, die letzten Schnaufer eines Untergangs, die letzten Schnaufer was mal Mensch war, was Dreck wird, Sediment“, kontextualisiert eine Stimme über die Lautsprecher. Gleichzeitig werden die Bewegungen der Performer*innen schneller, angestrengter, bis die Steine aus ihren Händen fallen, und ihre Körper ebenso am Boden zum liegen kommen, wo sie zu einer Vielfalt hybrider Steinwesen verschmelzen.

flowers, bodies and STONES. Claudia Bosse mit Studierenden des Institute of Dance Arts der Anton Bruckner Privatuniversität und der Kunstuniversität Linz
flowers, bodies and STONES. Claudia Bosse mit Studierenden des Institute of Dance Arts der Anton Bruckner Privatuniversität und der Kunstuniversität Linz

Eine letzte Etappe findet im voestalpine open space am Dach des OK statt, seine Architektur ein Gitterkäfig aus Metall. Während wir uns hier neu orientieren, tönt es: “Du stehst auf unsicherem Boden”. Doch noch fühlen wir uns sicher. Nur langsam zieht eine bedrohliche Stimmung auf, als sich die Performer*innen abermals verwandeln, zu Resonanzräumen und Nährboden für einzelne Blumen werden. Diese wachsen aus ihren Mündern, und ein lauter werdendes, ephemeres Surren erklingt, dessen Ursprung kaum auf einzelne Körper zurückzuführen ist. Ein Chor aus Pflanzen, Menschen, Körpern, der in seinen dissonanten Zusammenklängen leicht erschauern lässt. Zuletzt verschwinden die Performer*innen kurz in der Menschenmenge, um begleitet von tosendem Lärm wieder zurückzukehren. Ohne zurückzuhalten werden die Steine nun mit voller Kraft auf das Gitter geworfen, am Boden über das Metall gerieben, bis der Käfig zittert und bebt. Die affektive Wirkung des Lärms und der Erschütterungen ist unausweichlich, und das Gefühl der Sicherheit, das wir inmitten dieser gebauten Struktur verspürt haben – verschwunden. Umso mehr tritt nun deren Fragilität zutage, als wir uns fragen, wie sicher wir eigentlich wirklich sind

Die ökologische Aufladung dieser Sequenz als Kulmination des zuvor Gesehenen ist klar. Doch flowers, bodies and STONES lässt uns nicht auf dieser Note, mit dem Lärm und dem Beben enden, erlaubt nicht das Verweilen in der aufgeschüttelten Emotion. Stattdessen lösen sich die Performer*innen nochmals aus der Gewalt, und wir verweilen mit den spürbaren Konsequenzen des Passierten. Die Performer*innen beginnen, den Gitterboden mit vertrockneten Zweigen zu fegen, als könnten sie damit die vorherigen Akte auslöschen. Als würde der Boden nicht immer noch zittern, sich unsere Körper – gleichsam hybrid und verletzlich – nicht immer noch an den bebenden und fragilen Untergrund erinnern

Verhältnisse des Sehens und Verstehens
Betty Apples Mermaid Escape Room folgt an einem weiter hinter gelegenen Teil des OK, nämlich auf einem Betondach, das in seiner vermeintlichen Stabilität und Unvergänglichkeit eine neue Sicherheit vermittelt. Die Performerin ist zunächst unter einem silbernen Folienhimmel verborgen. Während diese im Wind knistert, erlaubt der Moment eine kurze Reflexion, das Sacken lassen des zuvor Erlebten. Doch nur kurz können wir hier zur Ruhe kommen, bevor wir wieder ins kalte Wasser geworfen werden. Mit langsamen, bedächtigen Bewegungen gräbt sich die Künstlerin aus der wellenwerfenden Silberfolie. Grüne Netzhandschuhe strecken sich an die Oberfläche bevor sich ihr Körper vollständig daraus erhebt. Es folgt eine rasche Veränderung des Tons und der Stimmung. Das Silikonoberteil der Künstlerin formt auf ihrem Körper eine hyperfeminine Gestalt samt großen, kaum bedeckten Brüsten. Sie trägt eine Arielle-Perücke aus langem roten Haar. Die Meerjungfrau wird zum Objekt der Faszination und Exotik, ihr Auftreten hypersexualisiert und verführerisch. Aus Betty Apples Meerwesen bricht eine Flut von Sprache hervor, jedoch bestehend nur aus Klängen und Geräuschen, zusätzlich verstärkt durch ein Mikrofon. Klar wird jedoch aus ihrem Habitus, dass sie versucht, in Dialog mit dem Publikum zu treten. Dies gelingt jedoch erst, als sie sich langsam aus der Schwanzflosse und der Perücke herausgeschält hat und beginnt, Englisch zu sprechen. Auch die Silikonbrüste wird sie los und stülpt sie sich triumphierend wie eine Krone über den Kopf. Obwohl physisch befreit, bleiben ihre Bewegungen verführerisch und sexuell konnotiert und lassen patriarchale Vorstellungen von normativer Weiblichkeit weiterhin beklemmend im Raum stehen. 

Dabei bleibt es allerdings nicht. In der Dynamik zwischen Publikum und Performerin gestattet Betty Apple nur kurzzeitige voyeuristische Frontalität. Durch das bewusste Annehmen einer radikalen Autoritätsposition gewinnt sie die Kontrolle über die Situation zurück, und bringt das anfangs zurückhaltende Publikum dazu, sich an der Performance zu beteiligen, obwohl es zunächst eigentlich nur bereit war, sie zu beobachten. Durch mehrfache Aufrufe zur Partizipation bricht sie langsam die abwehrende Haltung und Berührungsängste des Publikums auf. So weist sie die Zuschauenden mit der Aussage “I am Mermaid” einzeln und gemeinsam an, selbst in das Mikrofon zu sprechen und ihre Worte zu wiederholen. In diesen Aufforderungen spiegelt sich nicht nur eine Umkehrung des einnehmenden Blicks, sondern auch eine Einladung zur Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Unbekannten. So weicht die Bequemlichkeit des bloßen Zuschauens und die Abwehrhaltung eines kolonialisierenden und patriarchalen Blicks langsam einer gemeinsamen Affirmation und Zelebration der uns allen inhärenten Andersartigkeit.

Fluide Kollektivität
Nach einem letzten Ortswechsel findet man sich auf dem hintersten Teil des Daches, wo sich ein malerischer Blick über Linz bietet. Bei Sonnenuntergang versammeln sich die Zuschauer*innen hier um die Tanzfläche, während sanftes Wellenrauschen über die Lautsprecher erklingt. Wir verweilen also mit dem Wasser, nähern uns noch mehr der Fluidität an. So greifen auch die Tänzer*innen von TANZ LINZ das Motiv des Wassers auf und treten mit fließenden, synchronisierten Bewegungen das Ende des Abends an. Dennoch sind ihre Bewegungen nie einheitlich oder standardisiert – die jeweils eigenen Bewegungsgrammatiken und -qualitäten der Ensemble-Mitglieder treten klar hervor. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten trennen sie sich in ihren Bewegungen immer wieder, einzelne Performer*innen tanzen ihre eigenen Tänze weiter hinten, oder bewegen sich zu zweit, umeinander. Die Individualität der Tänzer*innen entfaltet sich so in einer kollektiven Erforschung des gemeinsamen Bewegens voller Freude und Lust, ähnlich der fließenden Anmut eines sanft plätschernden Gewässers.

Diese Freiheit wird kontrastiert von einem Abschnitt französisch gesprochener Ballett-Anweisungen. In schneller Abfolge werden so die Posen der täglichen Aufwärmrunden vorgegeben und koordiniert. Doch in der Geschwindigkeit und Vielzahl der Anweisungen beginnen die Aufforderungen schnell unterzugehen. So wirken sie bald eher wie Versuche der Beschreibung des Gesehenen, oder Versuche der Kontrolle, denen sich die einzelnen Tänzer*innen jedoch immer wieder entziehen.

LABO TRACES, TANZ LINZ
LABO TRACES, TANZ LINZ

Am Dach des OK rahmt die untergehende Sonne den Tanz auf malerische Art. Als die Tänzer*innen beginnen, Menschen aus dem Publikum auf die Tanzfläche zu holen, wiederholt sich erneut die Idee des Perspektiven- oder Rollenwechsel, die  schon die vorangehenden Performances so maßgeblich bestimmte. So bricht LABO TRACES die dualistische Opposition von Publikum und Performer*innen abermals auf, indem die Tänzer*innen  die wie selbstverständlich angenommene Abgrenzung des Tanzbodens überschreiten, um in kleinen Paartänzen und Improvisationen die Zuschauer*innen in Teilhabende zu verwandeln. Der klassische Anspruch des Tanzes nach Ordnung, Planbarkeit, technischer Virtuosität oder Gleichheit, wie zuvor über die Stimme des Ballettmeisters aufgerufen, wird zu Gunsten der Freude der Schaffung zwischenmenschlicher Verbindung außer Kraft gesetzt. Das Überschreiten von Grenzen wird zu einem subversiven Akt, einem Ausbruch aus vorgegebenen Normen innerhalb des Kontextes einer Tanzdarbietung, die immer noch von dramaturgischen Normen und Bewegungsausdrücken geprägt bleibt.

So wie sich Hybridität durch ein Öffnen vermeintlich fixer, festgeschriebener Identitätskonzepte auszeichnet, reflektiert das kuratierte Format Hybrid Bodies diverse Bezüge zu Ausdrucksweisen und Subjektivitäten, die sich gegebenen Normen widersetzen und deren historische und soziale Konstruiertheit infrage stellen. Die Performances lassen ein “Alles-oder-Nichts” Denken als dysfunktional erkennen und bringen die uns allen innewohnende Hybridität zum Vorschein – sie ermöglichen uns eine positive Erfahrung von Fremdheit (auch innerhalb des eigenen Körpers), sowie das Eintauchen in poetische Handlungen, künstlerische Transformation und Transgression.

Eine Serie an Performances wird als mehrtägiges Festival auch 2024 wieder im OK entstehen – davor kann noch bis zum 10. Oktober 2023 die Ausstellung “Queer – Diversity is our Nature” im OK Linz besucht werden. Das Buch zum letztjährigen Performance Festival gibt es hier.


perfoörmhttps://www.instagram.com/perfooerm/

OÖ Landeskulturhttps://www.ooekultur.at/event-detail/hybrid-bodies

Claudia Bosse / theatercombinathttp://www.theatercombinat.com

Betty Applehttps://bettyapple.art

TANZ LINZhttps://www.landestheater-linz.at