Wien Ausstellung
Ausstellung

Rene Matić & Oscar Murillo

Die Kunsthalle Wien präsentiert Rene Matić (1997, Peterborough, Großbritannien) und Oscar Murillo (1986, La Paila, Kolumbien) zum ersten Mal gemeinsam. In JAZZ. zeigen die beiden Künstler:innen sowohl bestehende Werke als auch neue Auftragsarbeiten, die speziell als Reaktion auf den Ausstellungsraum wie auch die Stadt Wien entstanden sind.

Mit malerischen Gesten, Installationen, Film, Fotografie und Ton steht jedes der gezeigten Elemente von Matić und Murillo im Dialog und wird von Murillos schwarzer Leinwandinstallation gerahmt, die im gesamten Raum von der Decke abgehängt ist. Gemeinsam erforschen die beiden Künstler:innen durch Analyse und Versöhnung die Unmöglichkeiten und Widersprüche, die mit Fragen des Begehrens, der Sichtbarkeit und Opazität verbunden sind.

Zur Ausstellung. Die Künstler:innen nehmen unterschiedliche Perspektiven ein und arbeiten in verschiedenen Medien, beide verwenden jedoch in ihren Praktiken Gesten und Abstraktionen. Murillo zieht dem Subjektiven und Individuellen das Gesellschaftliche und Kollektive vor, während Matićs künstlerische Praxis oft auf dem Persönlichen beruht. Murillos Arbeiten, einschließlich ihrer Titel, verweisen oft auf den Akt, Botschaften zu verschicken oder etwas aufzuzeichnen, abzufangen und hinzuhören; Matić hingegen beschäftigt sich eingehend mit der Rezeption von Bildern. Murillos Malereien und Zeichnungen werden durch das Hinterlassen von Spuren und durch Gesten lebendig; Matićs Arbeiten nutzen Tanz im Bereich von Bewegtbild und Fotografie als Ausdrucksmittel. So könnte JAZZ. – ein Titel, der vielfältige Resonanzen auslöst und Eigenschaften der Praktiken beider Künstler:innen berührt – als eine Form der künstlerischen Zusammenarbeit verstanden werden, aber auch als eine Form der Rezeption: eine, in der sich kulturelle Sensibilitäten verbinden, in der improvisiert wird und die Interaktion innerhalb einer Gruppe ebenso entscheidend ist wie die individuelle Stimme. JAZZ. deutet auf das Begehren hin, das Andere zu konsumieren, spielt mit Performativität und bewahrt sich das Recht auf Opazität. Obwohl sich die Praktiken von Matić und Murillo eher zu ergänzen scheinen, überschneiden sich wichtige Aspekte. So ähnelt die gestische, an Action Painting erinnernde Malerei, die oft im Mittelpunkt von Murillos Werk steht, dem Einsatz von Tanz in Matićs Videos; beide teilen eine spontane, unbeschwerte und improvisierte Herangehensweise. Die Künstler:innen nutzen in ihren Arbeitsprozessen und ihrer Produktion Intuition, eine kalkulierte Intuition – man könnte auch von strategisch eingesetzter Intuition sprechen. Zudem gelingt es beiden Künstler:innen, sich in einem kulturellen Kontext, der alles und jede*n klassifizieren und glätten will, einen Raum der Unabhängigkeit zu erkämpfen. Einen solchen Raum einzunehmen erfordert zunächst einen Akt der Disaffiliation (Begriff nach Édouard Glissant), um sich von etablier-ten Traditionen lösen und einen Raum für nichtkontinuierliche, neuartige Denkweisen zu schaffen, und dann die eigenen (kunst-) historischen Narrative und Genealogien neu zu formulieren. Dies gilt in intellektueller Hinsicht ebenso wie für zwischenmenschliche Beziehungen.

Oscar Murillo, Telegram, 2016–2023, Foto: Tim Bowditch und Reinis Lismanis, Courtesy der Künstler, © Oscar Murillo
Oscar Murillo, Telegram, 2016–2023, Foto: Tim Bowditch und Reinis Lismanis, Courtesy der Künstler, © Oscar Murillo

Zu den Arbeiten Oscar Murillos. Oscar Murillos großformatige schwarze Bilder – ein wiederkehrendes Element – entfalten in der kunsthalle wien ihre beeindruckende architektonische Dimension. Sie hängen von der Decke herab und bilden eine fast labyrinthische Struktur; so formen sie behutsam den Raum und erlauben intime Begegnungen mit den Werken. Ihre intensive Dunkelheit kann ein Gefühl von Gefahr oder sogar Trauer hervorrufen; zugleich können sie ein Raum sein, wo neues Leben entsteht und Wiedergeburt möglich ist. In diesem Labyrinth begegnen wir weiteren Werken Murillos, wie etwa einer neuen Serie von Landschaftsmalereien mit dem Titel fields of spirits Geisterfelder. Frequencies [Frequenzen] gehört zu Murillos kollaborativen Projekten. Seit 2013 besucht der Künstler Schulen in aller Welt und bespannt die Tische der Schüler:innen mit Leinwänden, auf denen sie nach Belieben zeichnen oder Schriftzüge und andere Spuren hinterlassen können, bis Murillo sie nach einigen Monaten wieder einsammelt. In der Ausstellung in der kunsthalle wien werden Teile dieser Sammlung als großformatige Tapeten präsentiert. Die Drucke vergrößern die unbewussten und bewussten Spuren zu eindrucksvollen Dimensionen und dienen auch als Grundlage der Serie Telegram Telegramm.

Rene Matić, (out of) place 1, 2024, Courtesy Rene Matić und Arcadia Missa, London, © Rene Matić
Rene Matić, (out of) place 1, 2024, Courtesy Rene Matić und Arcadia Missa, London, © Rene Matić

Das Arbeiten mit Fragmenten – die in unterschiedlichen Räumen und Zeiten entstanden sind und von einem Ort zum anderen transportiert wurden, um schließlich zusammengefügt oder Schicht um Schicht überarbeitet zu werden – steht seit Langem im Mittelpunkt von Murillos Werk. Diese Praxis unterstreicht die Präsenz zahlreicher Hände und höchst vielfältiger geografischer Kontexte, die Murillos Malereien, Skulpturen und Performances durchdringen.

Rene Matić, climax, 2024, Videostills • Courtesy Rene Matić und Arcadia Missa, © Rene Matić

Zu den Arbeiten Rene Matićs. Rene Matićs Beiträge zur Ausstellung JAZZ. umgeben Murillos Konstruktion, sind teils aber auch in diese eingebettet: vier neue Auftragsarbeiten – zwei Filme, eine Fotoserie und eine Sound-Arbeit – sowie eine bestehende Wandinstallation. Ausgangspunkt von Matićs Arbeiten ist Wiens Reaktion auf Josephine Bakers Ankunft in der Stadt 1928 und der „Skandal“, den ihre Auftritte auslösten. Die US-Amerikaner:in war einige Jahre zuvor nach Paris emigriert, wo sie als Tänzer:in und Sänger:in außerordentliche Erfolge feierte. Die Erfahrungen, die sie in Wien machen musste, stehen im Widerspruch zu dem ziemlich romantisierten Narrativ, dass ihre Rezeption in Europa – anders als im harschen, rassifizierten Kontext ihres Herkunftslands – eher liberal geprägt war. Tatsächlich sah die österreichische Presse in Baker einen ernsthaften Angriff auf die Werte der europäischen Kultur. In diesen Artikeln wurde Baker zum Synonym für Schwarzsein, Jazz und Unterhaltungskultur, während Wien und Europa für Weißsein, Walzer und Hochkultur standen. Baker löste in Wien einen solchen Aufruhr aus, dass die katholische Kirche sich genötigt sah einzugreifen. Zahlreiche Predigten warnten vor ihren verführerischen Auftritten, die Kirchenglocken läuteten, um die ,armen Seelen‘ vor der Versündigung zu bewahren, und es wurden Sondergottesdienste gefeiert, um die Beziehung der Gemeindemitglieder zum „Heiligen und Göttlichen“ zu stärken. Vor diesem Hintergrund entwickelte Matić die Filme redacted [redigiert] und climax [Höhepunkt], die Fotoserie (out of) place ([fehl am] Platz) und die Sound-Arbeit voice [Stimme] (alle 2024). In redacted sehen wir, wie Matić in einem schwarzen Raum tanzt, der von einem einzigen, feststehenden Scheinwerfer erhellt wird. Beim Tanzen bewegt sich der Körper in die Dunkelheit hinein und aus ihr heraus, ins Scheinwerferlicht – und damit auch in unser Blickfeld – und aus ihm heraus. Matić nutzt die Dunkelheit als Einschließung und Rückzugsstrategie, die ebenso Verweigerung wie Schutz bedeuten kann – eine Vorstellung, die für Körper, die in ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext grundsätzlich schon exponiert sind, lebenswichtig ist. Die filmische Textarbeit climax bringt Originalzitate von Baker in unmittelbaren Dialog mit den Wiener Zeitungsberichten. Dieser Dialog kann als Gespräch, als Streit und vielleicht sogar als Liebesakt – oder, wie Matić sagt, als „hate-fuck“ – verstanden werden. Die für die Fotoserie verwendeten Leuchtkästen ähneln denen, die man überall in Wien und damit auch im MuseumsQuartier vorfindet; die Rahmen verweisen auf die originalen Werbeplakate für Bakers Auftritte. Die Sänger:in und Tänzer:in steigerte bewusst die Attraktion und schürte die von ihr ausgelösten Fantasien, und auch Matićs Bildsprache spielt mit einem gewissen Erotizismus; zugleich hält sie einen Übergangsmoment der Bewegung und der Intimität fest, wie um eine eindeutige Definition zu vermeiden und zu ermöglichen, dass sich ein neuer Raum öffnet. voice lässt von Zeit zu Zeit Kirchenglocken im Ausstellungsraum erklingen – in diesem Fall allerdings nicht, um vor Baker zu warnen, sondern um zum Gebet für Baker aufzurufen und der Tänzerin ihre Stimme zurückzugeben. Die Glocke fungiert auch als eine Störung im Raum, um das Publikum an seine Teilhabe am Akt des Betrachtens und an die Geschichten und Politiken zu erinnern, die mit diesem Akt verbunden sind. Matić und Murillo teilen großzügig ihre Gedanken, Gefühle und Praktiken mit anderen; doch sie bleiben zugleich dem Grundsatz verpflichtet, dass „alle ein Recht auf Opazität haben“. Wie der Philosoph und Dichter Édouard Glissant in seinem Buch Poétique de la Relation (engl. Poetics of Relation [Poetik der Beziehung]) argumentiert, übersieht die Transparenz – durch ihre Definitions- und Klärungsversuche – jene Aspekte des Selbst, die schwer fassbar oder sogar unbegreiflich sind. Opazität hingegen akzeptiert einfach, dass nicht alles, was uns ausmacht, restlos verstanden werden kann.

Ausstellung: Rene Matić & Oscar Murillo. JAZZ.
Kurator:innen: What, How & for Whom / WHW (Ivet Ćurlin • Nataša Ilić • Sabina Sabolović) und Laura Amann
Dauer der Ausstellung: 14. März 2024 bis 28. Juli 2024
Öffnungszeiten: Di–So 11 – 19 Uhr • Do 11 – 21 Uhr
Die Freie Donnerstagnacht: Jeden Donnerstag von 17 bis 21 Uhr freier Eintritt!

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher kostenloser Guide, mit einem Essay der Kuratorinnen, Statements der Künstler*innen sowie Werkabbildungen und -beschreibungen. Auf der Website der kunsthalle wien ist die digitale Version abrufbar.

Adresse und Kontakt:
kunsthalle wien Museumsquartier
Museumsplatz 1, 1070 Wien
www.kunsthallewien.at


Rene Matić (1997, Peterborough, Großbritannien), Künstler:in und Autor:in, lebt und arbeitet in London. Matićs Praxis umfasst Fotografie, Film und Skulptur und läuft an einem Ort zusammen, den Matić als „rude(ness)“ bezeichnet ‒ ein Aufzeigen und Würdigen des Dazwischen. Matić lässt sich von Tanz- und Musikbewegungen wie Northern Soul, Ska und Two-Tone inspirieren, um die komplexe Beziehung zwischen der westindischen und der weißen Arbeiterinnenklasse in Großbritannien zu erforschen, wobei Matić sich bevorzugt mit queeren/dem Queering von Intimitäten, Partner:innenschaften und Vergnügen als Überlebensmodi beschäftigt. Zu Matićs jüngsten Einzelausstellungen gehören upon this rock, Kunstverein Gartenhaus, Wien, 2023, und South London Gallery, London, 2022; soul time, Studio Voltaire, London, 2022; in spite of, instead of, Quench Gallery, Margate, 2022; flags for countries that don’t exist but bodies that do, Arcadia Missa, London, 2021; und Born British Die British, VITRINE Gallery, London, 2021. Zu Matićs jüngsten Gruppenausstellungen gehören Coventry Biennial, UK, 2023; Divided Selves: Legacies, Memories, Belonging, Herbert Art Gallery & Museum, Coventry, 2023; Crowd Control, High Art, Arles, 2022; Queerdirect, Sadie Coles HQ, London, 2022; Arcadia, Bold Tendencies, London, 2021; Bloomberg New Contemporaries, South London Gallery, London, 2021; und Friends and Friends of Friends, Schlossmuseum, Linz, 2020. Matićs Werke befinden sich in mehreren bedeutenden Sammlungen, darunter Tate, London; Fondation Louis Vuitton, Paris; Kunstsammlung der britischen Regierung; Sammlung des Arts Council, London; South London Gallery, London; Walker Art Gallery, Liverpool; Martin Parr Foundation, Bristol; Sammlung der University of the Arts London, London; Leslie-Lohman Museum of Art, New York; und Deutsche Bank Collection, Berlin.

Oscar Murillo (1986, La Paila, Kolumbien) hat eine facettenreiche und herausfordernde künstlerische Praxis mit wiederkehrenden Motiven entwickelt, darunter großformatige Gemälde, kollaborative Elemente, Live-Events, Sound-Arbeiten und Installationen. Er beschäftigt sich eingehend mit Fragen der Kollektivität und geteilter Kultur und verpflichtet sich seit Langem der Kraft der materiellen Präsenz, um komplexe Meditationen über die zeitgenössische Gesellschaft zu vermitteln. Murillo erhielt 2007 einen BFA an der University of Westminster und 2012 einen MFA vom Royal College of Art. Im Jahr 2019 war Murillo einer von vier Künstler:innen, die gemeinsam mit dem Turner Prize ausgezeichnet wurden, und im Jahr 2023 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der University of Westminster verliehen. Zu Murillos jüngsten Einzelausstellungen gehören Masses, WIELS, Brüssel (2024); Together in Our Spirits, Fundação Serralves, Porto; Frequencies, Javett-UP, Pretoria (beide 2023-24); A Storm Is Blowing From Paradise, Scuola Grande della Misericordia, Venedig; Currents 121: Oscar Murillo, Saint Louis Art Museum, St. Louis (beide 2022); Social Cataracts, KM21, Den Haag und Condiciones aún por titular, Museum of Art of the National University of Colombia,Bogotá (beide 2021-22). Diesen Sommer wird Murillo im Rahmen des UNIQLO Tate Play-Programms neue Auftragsarbeiten und eine partizipative Installation in der Tate Modern präsentieren. Werke des Künstlers befinden sich weltweit in Museumssammlungen wie dem San Francisco Museum of Modern Art, San Francisco; Tate, London; Fondation Louis Vuitton, Paris; Dallas Art Museum, Dallas; Fondazione Prada, Mailand; Kettle‘s Yard, Cambridge; Moderna Museet, Stockholm; The Museum of Contemporary Art, Los Angeles; Museum Ludwig, Köln und The Museum of Modern Art, New York.