Wien Kunst
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Wie lange kann Gaia uns noch tragen?

Dieser Satz beendete – direkt an die Zusehenden gerichtet – Claudia Bosse’s erstes Solo „ORACLE and SACRIFICE oder die Evakuierung der Gegenwart“. Eine Frage, nicht geflüstert in mein Ohr, um aus meiner Leber die Zukunft zu lesen, aber nun doch in mir. Ich habe sie in mich aufgenommen, diese gesprochene Frage, die sich in vielfachen Schritten aus dem Körper der Künstlerin in mein Gedächtnis, in mein Gehirn – in meinen Körper gesetzt hat. Es folgt eine Reflexion zur offenen Probe von ORACLE and SACRIFICE in the woods.
claudia bosse ORACLE and SACRIFICE - theatercombinat

Der Körper und Relationen des Innen und Außen standen vielfach im Zentrum des Solos, wurden vor dem Hintergrund der antiken Leberorakel der Etrusker erforscht über Bewegungen, Sprache, Gewalt. So zählte Claudia Bosse die Organe ihres Körpers auf, trug ein Herz als Kette um ihren Hals, fuhr mit ihren Fingern über ihre Haut wie in dem Versuch, Spuren in ihn einzugraben oder zu finden.

Nun stehen wir als kleine Gruppe Teilnehmer*innen einer offenen Probe für ORACLE and SACRIFICE in the woods auf einer Wiese im Wiener Prater; nacheinander zeichnen wir die Bewegungen des Lichts mit unseren Händen nach, berühren die Blätter der Bäume, nehmen am Bauch liegend den Geruch von Erde in uns auf.

Atme mit der Sonne. Atme mit den Bäumen – ein Austausch mit dir, mit ihnen. Atmet gemeinsam.

Wo ORACLE and SACRIFICE oder die Evakuierung der Gegenwart den eigenen Körper ausgelotet, seine Bewegungen erforscht, seine Limitationen überprüft hat, steht nun die Auflösung von Konzeptionen des Körpers als Abgrenzung von der uns umgebenden Umwelt im Zentrum. Der menschliche Körper, so stellt sich heraus, ist einer von einer Vielzahl an Organismen – pflanzlichen, fungiziden, tierischen – die in intimer Verbindung miteinander stehen und sich in unzähligen Prozessen bedingen und beeinflussen.

claudia bosse ORACLE and SACRIFICE - theatercombinat

In acht Hörstücken, abgespielt über Kopfhörer werde ich von Claudia Bosses Stimme immer tiefer in den Praterwald geleitet, durch Sträucher, Unterholz, Lichtungen. Ich höre diese Stimme ganz für mich allein, und doch auch nicht. Zeitversetzt werden die Teilnehmenden auf den Weg geschickt, zeitversetzt starten wir die Hörstücke – erleben dasselbe, erleben es gemeinsam nebeneinander zu verschiedenen Zeiten. Wir bewegen uns zusammen durch den Raum, zu Anweisungen, die wir alleine befolgen. Eine Auflösung linearer Konzepte von Temporalität wie sie schon in Teil 1 der Performance erarbeitet wurde, die aber noch erweitert wird um eine Intensivierung immersiver und partizipatorischer Dimensionen.

Hinter Claudias Stimme im Hörstück fügen sich unter anderem die Schreie von Krähen, ein sanftes Blätterrascheln und leise knackende Zweige zu einer dezenten Geräuschkulisse zusammen. Eine Kulisse, wie sie mich auch umgibt auf meinem Weg durch die Wälder, und deren Klänge sich miteinander vermengen. Das Ineinander-verwachsen verschiedener Wirklichkeiten findet sich auch auf installativer und performativer Ebene. So werden Organe – von den Ästen hängend, gegen Baumrinden gerieben – Teile des Waldes. Organe werden Teile des Waldes. Es bietet sich ein durchaus grotesker Anblick; Totes trifft auf Lebendiges, Organmaterial auf Organloses.

Du gehst auf den Innenwänden deiner Gedärme.

Auf den achtteiligen Audiowalk folgt in einem zweiten Teil von „ORACLE and SACRIFCE in the woods“ eine raumgreifende Choreografie. Wo allerdings der erste Abschnitt bestimmt ist von Wörtern, so zeichnet sich der zweite Teil (für mich) unter anderem aus durch deren Fehlen. Es wird nicht mehr gesprochen, die Anweisungen und Kodierungshilfen die das Hörstück zuvor geliefert hatte fallen weg. Ich muss mich neu orientieren, mich neu einlassen auf das, was sich vor mir abspielt.

claudia bosse ORACLE and SACRIFICE - theatercombinat

Performer*innen nähern sich nacheinander den Platanen, die den Endpunkt unseres Spazierganges durch den Wald markieren. Sie scheinen vertieft, konzentriert, fokussiert. Gehen sie in Verbindung mit den Bäumen? Später bewegen sich alle abermals weiter in den Wald, wo ein kolossales weißes Herz, das auch schon im Solo „ORACLE and SACRIFIE oder die Evakuierung der Gegenwart“ ein wichtiges installatives Element darstellte, wieder in Erscheinung tritt. Doch im Gegensatz zum Solo, findet in der Choreografie keine Interaktion mit dem Objekt mehr statt.

Du wirst gesehen haben, wie die Bäume revoltieren. Die Toten der Meere werden mit uns auf den Straßen stehen. Für die Gleichheit. Die Gleichheit aller Körper.

Stattdessen beobachtet man, wie die Performer*innen in wortloser Übereinkunft ihre Wege durch die Wälder finden, hin und zurück, aneinander vorbei. Es wohnt ihnen etwas Animalisches inne, etwas Naives und Unkontrolliertes. Bewegungen, die keine sprachliche Erörterung erhalten oder brauchen.

Die Stille wird lange nur durch die Geräusche der Schritte der Performer*innen und den Geräuschen des Waldes gebrochen. Lange Zeit gen Ende der Choreografie liegen die grau gekleideten Mitwirkenden am Boden, an Bäumen – vollziehen Handlungen, die den von uns zuvor im Hörstück ausgeführten nicht unähnlich sind. Auch sie scheinen in Verbindung, in Zwiegespräch mit dem Wald zu sein. Es fällt nicht leicht, über diesen zweiten Abschnitt der offenen Probe zu schreiben, etwas in Worte zu fassen, dass sich der Sprache bewusst zu entziehen scheint. Doch es fühlt sich an, als wäre die Choreografie eine Übersetzung und Zusammenführung des zuvorgegangenen Hörstücks und dem „Solo ORACLE and SACRIFICE oder die Evakuierung der Gegenwart“, mit seinen von diesen übernommenen Bewegungsabläufen und Motiven.

Beendet wird die Choreografie und somit auch die Probe für die Performance „ORACLE and SACRIFICE in the woods“ mit einer Komposition von Peter Jakober. Die Performer*innen blasen in metallene Pfeifen, entlocken ihnen sanfte Töne, entfernen sich weg von der Gruppe Zusehender, die damit ihren Gedanken über das Erlebte überlassen werden.

Performance: ORACLE and SACRIFICE in the woods von Claudia Bosse
Premiere: 8. Mai 2022 in Koproduktion mit brut Wien

Über Claudia Bosse: Sie studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, ist seit 25 Jahren als Choreografin und Regisseurin tätig und leitet die transdisziplinäre Kompagnie theatercombinat. Ihre raumgreifenden, raumspezifischen Arbeiten befassen sich mit Körperlichkeit, der Beziehung von Innerem und Äußeren und bewegen sich zwischen politischer Intervention, bildender Kunst und experimentellem Theater.

theatercombinat – www.theatercombinat.com